Es war ein schöner Herbst, und ich betrachtete sie wohlgefällig, Roswitha und Jakob. Hatten sie sich doch dank meiner monatelangen Zuwendung prächtig entwickelt, und jetzt, kurz vor dem Winter, etwas an Gewicht zugelegt, und das mit glänzendem, straffen Gefieder. Allein Jakob hatte die Angewohnheit, seine linke Schwinge im Sitzen etwas abzuspreizen, sozusagen im geschlossenen Zustand. Na ja, an der Haltungsnote ließ sich bestimmt noch arbeiten.

Ich hatte dieses Jahr im Mai zeitig mit der Winterfütterung begonnen, mit einem bescheidenen Walnussvorrat vom Vorjahr. Die Idee, Saatkrähen auf mich zu prägen, kam mir dann eher beiläufig, als zwei von ihnen nachmittags fast immer zur gleichen Uhrzeit oben auf der benachbarten Fabrik saßen, später dann gar lautlos anstrichen und in der Nähe so lange warteten, bis ich eine Handvoll Walnüsse auf dem Hof ausgelegt hatte. Und tatsächlich: kaum war ich 20 Meter entfernt, nahmen sie sich engagiert dieser Gaben an. Der Gedanke, sie über Monate oder Jahre zu zähmen, bis sie mir aus der Hand fressen würden, fesselte mich. Oder – ich dachte an den Beifall von Kollegen, Freunden und Kunden -,  wenn ich Ihnen einfach einzelne Walnüsse hochwerfen würde, die sie als elegante Flieger dann auffangen würden. Der Konrad vom mittleren Rheintal, sozusagen. Es war eine schöne Zeit, und im Oktober begann ich, die neue Ernte einzusammeln, und in mehreren Weidenkörben einzulagern. Mein Beobachtungsvermögen konnte ich Dank meiner beiden neuen Freunde weiterentwickeln: Zuerst fielen die reifen Walnüsse direkt aus Ihrer Halterung auf den Boden, allererste Qualität. Dann, mit etwas Wind, fielen weitere, immer noch ansehnliche Exemplare. Schließlich, mit den ersten Herbststürmen, kam die second crop, durchaus noch große Nüsse, jetzt aber meist schwarz, gelegentlich schmierig. Na ja, zur Beifütterung taugten sie allemal. Ich hatte mittlerweile begonnen, die Nüsse, auch große Exemplare, hochzuwerfen, damit einige von Ihnen auf dem gepflasterten Boden zerschellten. Mein Hund, an offenen Nüssen normalerweise durchaus interessiert, hielt sich nach wenigen Volltreffern bei diesem Manöver dann auffällig zurück. Die Idee mit dem Hochwerfen hatte ich dabei von den Krähen selber – Sternstunden, wenn ich beobachten konnte, wie Jakob z.B. eine Nuss in den Schnabel nahm, 8 -12 Meter aufstieg, die Nuss fallen ließ, die dann tatsächlich – meist – zerplatzte. Sehr zur Freude von Roswitha und mir. Wirklich kluge mitteleuropäische Krähen, so, wie von den Gebrüdern Grimm auf Burgen beschrieben, sozusagen deutsche Krähen, etwas kleiner als die klobigeren russischen Saatkrähen, die mit dem großen, schwarzen Schnabel. Das mit dem Hochwerfen mit gelegentlichen Platzern machte ich Ihnen dann nach, immer um 15:00. So wie GMP lebenslange Schulung bedeutet, neuerdings mit Erfolgs­kontrolle, durften ja die beiden mir Anbefohlenen diese Fertigkeit nicht verlernen.

An einem der immer noch schönen Nachmittage ging ich dann nach der Fütterung gegen 15:20 zu meinem Nachbarn gegenüber, einem sehr netten und kinderlieben Bauunternehmer, um eines der für das Verhältnis zwischen Mann und Mann wichtigen Gespräche über die Politik, den Fußball, die fehlenden Subventionen, unsere Autos, das Wetter, den Ölpreis und mein nächstes Projekt zu beginnen. Um 15:58 wurde er heute allerdings unruhig, und sagte: „Ich muss jetzt leider unterbrechen, da kommen sie, meine beiden Freunde, hochintelligente russische Saatkrähen. Sie wissen genau, dass ich von meinem Frühstück immer etwas für sie aufhebe, mal das Brötchen, mal den Belag. Sie müssen jetzt bitte etwas zurücktreten, weil sie natürlich auf mich geprägt sind.“ Ich zog es vor, ganz zu gehen, und war ehrlicherweise irritiert.

Es war jetzt nach 16:00, immer noch hell, und auf der diametral anderen Seite der Straße war zufällig eine weitere Nachbarin zu sehen. Ich ging zu ihr rüber, und begann eines der für das Verhältnis zwischen Mann und Frau wichtigen Gespräche über die Politik, die Mode, die fehlenden Subventionen, unsere Kinder, das Wetter, den Ölpreis und mein nächstes Projekt. Gegen 16:58 schlug sie mir dann vor, doch einfach mal mit zu kommen: „Ich hebe regelmäßig Kuchenstücke und Kuchenkrümel auf, denn, sie werden es kaum glauben, Humbert und Sarah, 2 große schwarze Vögel, ich denke mal Dohlen, kommen regelmäßig um diese Zeit und holen sich ihren Teil.  Ich habe mir schon überlegt, sie auf der Veranda überwintern zu lassen. Allerdings wundere ich mich, dass sie in letzter Zeit nicht immer Alles auffressen.“  Dohlen? Dabei erkannte ich doch Jakob, so wie um 16:00 schon, sofort an seiner abgespreizten linken, na ja, sie wissen schon.

Ich zog es vor, ganz zu gehen. Ich war schon wieder einigermaßen gefasst, und dachte über die Umverteilung meiner Wintervorräte in den Weidenkörben nach. Dabei kam mir ein weiterer Gedanke: Wie gelehrig eigentlich, geschlossene Fenster und Türen vorausgesetzt, sind Stubenfliegen?

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